E  Andere Religionsgemeinschaften

 

3  Aleviten

Als in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts Menschen als sogenannte „Gastarbeiter“ aus der Türkei nach Deutschland kamen, waren unter ihnen nicht wenige, die zur Gruppe der Aleviten zählten. Nach Schätzungen gehören etwa 15 Prozent der türkischen Bevölkerung zu den Aleviten, die nicht mit den syrischen Alawiten verwechselt werden dürfen. Unter den Migrant*innen nach Deutschland dürfte der Prozentsatz sogar noch höher sein, da Alevit*innen in der Türkei eine lange Zeit der Unterdrückung erlitten haben. Erst nach dem Anschlag auf ein alevitisches Kulturfest in Sivas/Türkei im Jahr 1973, bei dem 37 Menschen ums Leben kamen, begannen die Alevit*innen in Deutschland sich zu organisieren. Heute leben in Deutschland ungefähr 500.000 Alevit*innen. Die meisten alevitischen Gemeinden sind in der Alevitischen Gemeinde Deutschland (AABF) organisiert, die ihren Hauptsitz in Köln hat. In NRW ist die Alevitische Gemeinde in Deutschland als Religionsgemeinschaft anerkannt und bietet seit 2007 einen eigenen Religionsunterricht in deutscher Sprache an.

Umstritten ist das Verhältnis der Aleviten zum Islam. Zum einen verbindet die Verehrung Muhammads und Alis, von dem ihr Name abgeleitet wird, die Aleviten mit dem schiitischen Islam. In Ritualen und Theologie unterscheiden sich die Aleviten jedoch beträchtlich sowohl vom schiitischen Islam persischer Prägung als auch vom sunnitischen Islam, wie er in der Türkei und in den arabischen Staaten die Mehrheit bildet. Der Koran gilt den Aleviten als Gottes Offenbarung – nicht jedoch in der Fassung der muslimischen Mehrheit. Die Offenbarung bedarf zudem der Auslegung und nimmt daher nicht den dogmatischen Rang ein wie im Islam. Alevitische Lehre wurde lange Zeit vor allem mündlich tradiert, die wichtigsten Erzählungen, Anweisungen und Lehren sind jedoch im Buch Buyruk gesammelt worden, das jedoch in unterschiedlichen Varianten überliefert wurde. In ihrer Selbstwahrnehmung verstehen sich die Aleviten als eine eigenständige, vom Islam unterschiedene Religion.

Den Kern des alevitischen Glaubens bietet ein pantheistisches Gottesbild. Das Göttliche wird als Haq bezeichnet, was auch mit Wahrheit übersetzt werden kann. Da in jedem Menschen das Göttliche erkannt werden kann, vertritt der alevitische Glaube einen religiösen Humanismus, der von der Gleichheit der Menschen ausgeht. Dies zeigt sich auch in den religiösen Ritualen: Am Semah, dem rituellen Tanz der Aleviten, der üblicherweise im Cem-Haus, dem Haus der Versammlung, abgehalten wird, sind Frauen und Männer gleichermaßen beteiligt. Zum Cem-Ritual gehören außerdem ein gemeinsames Mahl und eine Versöhnungshandlung. Besondere Kleidungsvorschriften oder verpflichtende Rituale gibt es bei den Aleviten nicht, sie haben auch keine Speisevorschriften. Nach alevitischer Lehre steht der Mensch im Mittelpunkt.

Während das pantheistische Gottesbild die Aleviten vom Christentum trennt, kommen sich beide in den ethischen Werten sehr nahe: Bescheidenheit, Wahrhaftigkeit und Nächstenliebe bestimmen das alevitische Lebensideal. Mit ihrem religiösen und ethischen Humanismus passen sich die Aleviten gut in den säkularen Staat ein und sind in der Regel offen für den interreligiösen Dialog. Die Beziehung zwischen den Aleviten und dem Islam, vor allem in seiner türkischen Variante, birgt jedoch wegen der spannungsreichen Geschichte erheblichen Konfliktstoff.

 

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