F  Religiöser Pluralismus

 

4  Esoterik

 

Wahrnehmungen

Unter dem Sammelbegriff Esoterik lässt sich der beherrschende spirituelle Trend unserer Zeit zusammenfassen: Meditationstechniken, die zu Erkenntnis oder gar Erleuchtung führen, alternative Heilungskonzepte, spirituelle Zukunfts- und Lebensberatung Hier wird behauptet: Unsere äußerlich wahrnehmbare Wirklichkeit habe noch eine Innenseite, die nicht auf dem üblichen Weg erkennbar sei. Dort finde man das eigentliche Wesen aller Dinge. Es zeige sich in besonderen Momenten, an besonderen Orten oder in eingeweihten Personen. Nur auf intuitivem Weg könne es erspürt, erlebt oder gefühlt werden. Der Normalverstand erfasse nur die äußerlichen Aspekte.

Abgeleitet von dem griechischen Wort esoterikós (innerlich, zum inneren Kreis gehörig) verspricht Esoterik auf übersinnlichen Wegen ganzheitliche und erlebbare Spiritualität, Anteil am kosmischen Bewusstsein und höhere Erkenntnisse, umfassende Lebenshilfe und Heilung. Diese Ziele seien erreichbar, da der Mensch im esoterischen Weltbild unbegrenzte Entfaltungsmöglichkeiten habe und in Einklang mit dem Kosmos und seinen Energien gebracht werden könne. Die Anbieter esoterischer Techniken haben zwar selten eine wissenschaftlich fundierte – beispielsweise psychologische – Ausbildung, treten aber mit dem Anspruch auf, den Menschen von Grund auf zu verstehen. Sie berufen sich auf angeblich „uraltes Wissen“ von Druiden, Ägyptern, Schamanen, Kelten oder Indianern. Kennzeichnend ist auch die selektive Übernahme asiatischer Religiosität (siehe Kapitel E). Begriffe wie „Energie“, „Kraftorte“, „Engel“, „Licht“, „Quanten“, „energetisch“, „innerer Weg“ oder „Erleuchtung“ finden häufig bei esoterischen Angeboten Verwendung.

Die moderne Esoterik versteht sich als eine universalreligiöse Bewegung mit dem Anspruch, die unterschiedlichen konkreten Religionen auf einen gemeinsamen Grund zusammenführen zu können. So werden magische oder spiritistische Orakelpraktiken mit asiatischen Meditationstechniken wie Zen oder Yoga kombiniert oder durch naturreligiöse oder schamanische Rituale mit ihren Vorstellungen von einer magischen Beseeltheit der Natur ergänzt. Diese selektiven und individuell verschiedenen Übernahmen führen nicht zu festen organisatorischen Bindungen oder Gemeinschaften. Im Gegenteil werden alle Formen von Rationalität wie auch die traditionellen Formen von Religion mit ihren Dogmen, Bekenntnissen, Ritualen und Texten geringgeschätzt, insofern dies alles nur die äußerliche Ebene erreicht.

Die Ablehnung objektiv nachprüfbarer Fakten schafft auch eine Offenheit für Verschwörungsdenken, wonach diese Wahrheit von den Mächtigen in Gesellschaft, Politik oder Kirchen unter Verschluss gehalten wird. Als ein zunehmender Trend lässt sich eine Verbindung von esoterischem mit völkischem Denken beobachten („braune Esoterik“).

Teilweise hat die Esoterik Gestalt gewonnen in organisierten Weltanschauungsgruppen (zum Beispiel in der Anthroposophie). Paradoxerweise wurde das eigentlich elitäre Geheimwissen seit den 1980er-Jahren einer breiten Masse zugänglich gemacht. Dahinter steht ein gewandeltes Verständnis von Esoterik: Gemeint ist nicht mehr länger ein auf elitäre „innere“ Kreise bezogenes Geheimwissen, sondern eine romantische „Innerlichkeit“ des Menschen, sein Fühlen und Empfinden. Dies macht esoterische Angebote für unsere individualisierte und erlebnisorientierte Gesellschaft hoch attraktiv. Ihre Angebote decken alle Lebensbereiche ab, von Ernährung und Gesundheit über Lebenshilfe und Pädagogik bis hin zu Wellness und Glück. In kommerzialisierter Form findet man Ratgeberliteratur in Zeitschriften, Büchern, DVDs, in Medien sowie in zahlreichen Angeboten auf großen Esoterik-Messen mit Workshops, Vorträgen und Gegenständen – mit milliardenschweren Umsätzen.

 

Einschätzungen

Ein Teil der esoterischen Szene knüpft ausdrücklich an das Christentum an. Gemeinsam ist beiden die Suche nach einer erfahrungsbezogenen Spiritualität wie auch der Protest gegen die Dominanz des Rationalen und gegen ein Wirklichkeitsverständnis, das kein Geheimnisvolles mehr kennt. Allerdings führt der Anspruch, ein „höheres“ oder absolutes Wissen zu haben, zu einer Verfremdung zentraler christlicher Elemente, wenn etwa die Geschichte des christlichen Glaubens neu erzählt wird, wenn weitere heilige Texte eingeführt werden, die den christlichen Kanon faktisch entwerten, oder wenn Jesus Christus zu einem „Eingeweihten“ wird, dessen Botschaft eigentlich esoterisch zu verstehen sei.

Christlicher Glaube hat sich von seinen Anfängen an gegen einen Dualismus der antiken Gnosis abgegrenzt, nach der die Menschen vor ihrer Geburt Lichtfunken aus einer besseren Welt seien, die sich im finsteren Erdenleben bewähren müssen, um wieder aufzusteigen. Esoterisches Denken greift diesen Ansatz wieder neu auf.

Demgegenüber bleibt festzuhalten, dass Gottes- und Heilserkenntnis immer ein Geschenk bleiben, dass ein Gebet ein dialogisches Geschehen ist und kein Verschmelzen mit einem kosmischen Prinzip darstellt und dass Gottes Macht sowie christliche Freiheit und Verantwortung nicht kosmisch oder durch den Kreislauf von Karma und Wiedergeburt festgelegt sind. Das grenzenlos optimistische Menschenbild und das Versprechen grundlegender Erkenntnisse und Erleuchtungserfahrungen sind zurückzuweisen.

Der christliche Glaube ist herausgefordert, seinerseits nach Spuren des Geistes in der Schöpfung zu suchen und Gottes befreiende Gegenwart bis ins Leibliche und Soziale hinein erfahrbar werden zu lassen. Die in der Esoterik gesuchten und in den Kirchen vernachlässigten Themen religiöse Erfahrung, Meditation, Heilung, Engel oder auch Dämonen sollten biblisch verantwortet zur Sprache kommen. Es kann deutlich werden, dass religiöse Sinnsuche immer ambivalent ist. Religion kann befreien oder unterdrücken, kann heilen oder zerstören.

 

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