F Religiöser Pluralismus
2 Evangelische Freikirchen
Neben den evangelischen Landeskirchen existiert eine Vielzahl von kleineren protestantischen Gemeinschaften, die sich selbst „evangelische Freikirchen“ nennen. Ihre Wurzeln liegen im Pietismus, dem englischen Methodismus und den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts. Sie bemühen sich um die Erneuerung eines am Urchristentum orientierten Gemeindelebens. Entsprechend stehen persönliche Glaubensentscheidungen und -erfahrungen und ein an der Bibel orientiertes Leben im Zentrum „Frei“ meint heute nicht mehr den Gegensatz zu den Staats- und Territorialkirchen und deren Verflechtung von geistlichen mit politischen Aufgaben, sondern die freie, selbstbestimmte Glaubensentscheidung, die eine Mitgliedschaft erst begründet. Manche dieser entstandenen Gemeinschaften zeigen aufgrund ihres exklusiven Anspruchs oder ihrer autoritären Struktur eine Tendenz zur Versektung. Die meisten Freikirchen erkennen aber an, dass auch in anderen Kirchen, und auch in den Großkirchen, authentisches Christsein Gestalt gewinnt, sodass ökumenische Beziehungen möglich sind und es bestehen Mitgliedschaften in lokalen und überregionalen ACKs. Teilweise stellt das unterschiedliche Taufverständnis mit der Ablehnung der Säuglingstaufe ein Problem dar. Freikirchen sind in der Ökumene stark an einem gemeinsamen missionarischen Engagement und Zeugnis interessiert, demgegenüber kirchliche Themen wie z.B. die Konfessionszugehörigkeit zurückgestellt werden. Dies geschieht beispielsweise in der Deutschen Evangelischen Allianz, dem größten deutschen Netzwerk aus Landes- und Freikirchen.
Im Selbstverständnis der Freikirchen spielt die einzelne Ortsgemeinde die zentrale Rolle. Sie ist weitgehend selbständig in ihren Entscheidungen, in ihr kommt die ganze Kirche zum Ausdruck. Für größere Aufgaben haben sie sich in Verbänden zusammengeschlossen, die allerdings in der Regel keine größere Autorität haben als die Einzelgemeinden. Als wichtigster Dachverband ist die Vereinigung evangelischer Freikirchen (VEF) zu nennen, der eine große Zahl klassischer Freikirchen angehören. Dazu gehören vor allem die Baptisten – von denen viele wiederum im Bund evangelisch-freikirchlicher Gemeinden (BefG) zusammengeschlossen sind –, der Bund freier evangelischer Gemeinden (FeG) und die Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden (AMG). Die großen Aussiedlergemeinden in Ostwestfalen sind selbständig oder in eigenen Verbänden und Konferenzen organisiert.
Die Christliche Versammlung (geschlossene Brüder, Darbysten) sondern sich von allen Kirchen ab, um in geschlossenen Abendmahlsfeiern die Einheit der Kirche am „Tisch des Herrn“ zu feiern, und lehnen jede Form von kirchlicher Organisation, von Ämtern wie von Bekenntnissen ab.
Neben diesen dem evangelikalen Spektrum zuzuordnenden Freikirchen begegnet man einer großen und ständig wachsenden Zahl von Gemeinschaften, die als Pfingstbewegung oder charismatische Bewegung bezeichnet werden. Auch bei ihnen werden persönliche Frömmigkeit und bewusste Glaubensentscheidung betont, darüber hinaus nehmen aber die enthusiastischen Wirkungen des Heiligen Geistes breiten Raum ein und werden Geistesgaben wie Heilung, Zungenrede und Prophetie zu einem wichtigen Aspekt der Frömmigkeit. Die weltweite Erfolgsgeschichte pfingstlich-charismatischer Bewegungen ist auch im europäischen Kontext erkennbar. In Deutschland stellt der Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) den wichtigsten und größten Zusammenschluss freier Pfingstgemeinden dar. Er ist auch Mitglied im VEF und nach einem zwischenzeitlichen Austritt auch wieder im ACK.
Im ökumenischen Gespräch besteht das zentrale Problem in der Konzentration der Pfingstgemeinden auf besondere Manifestationen des Heiligen Geistes. Nach ihrem Verständnis bedarf es einer „Geisttaufe“, die an der Glossolalie erkennbar sei, um eine christliche Existenz im Vollsinn möglich zu machen. Auch werden teilweise „Heilungsdienste“ mit außerordentlichen Versprechungen praktiziert und wecken einen hohen Erwartungsdruck.
Für die Landeskirchen hat die Geistliche Gemeinde-Erneuerung (GGE) diese charismatischen Impulse aufgenommen und legt den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf Seelsorge, Segnungen, Krankengebet, Lobpreisgottesdienste und Glaubenskurse.
Neben den etablierten Strukturen kam es in Folge zunehmender Pluralisierungsprozesse zu zahlreichen neuen Gemeindegründungen, die sich oft aus kleinen aktiven Glaubens- oder Hauskreisen entwickelt haben. Nicht selten versammeln sie sich in nichtsakralen Gebäuden (Fabrikhallen, Einkaufsläden), die sie zu Gottesdiensträumen umgestaltet haben. Auch wenn ihre Präsentationen sehr modern erscheinen, ist ihre Theologie in der Regel konservativ und modernitätskritisch. Sie selbst bezeichnen sich gerne als „evangelische Freikirche“, ohne dass sie eine organisatorische Beziehung zu den klassischen Freikirchen haben.
Eine vergleichsweise kleine Gruppe repräsentiert eine bibelfundamentalistische, oft anticharismatische Frömmigkeit. In der „Konferenz für Gemeindegründung“ schließen sie sich zu einem losen Netzwerk kleiner selbstständiger Gemeinden zusammen, die für sich die „Reinheit“ der biblischen Lehre und Gemeindepraxis in Anspruch nehmen. In ihrer elitären dezidierten Abgrenzung gegen volkskirchliche Strukturen als „unbiblisch“, gegen alle ökumenischen Institutionen (vom ÖRK bis zur Deutschen Evangelischen Allianz) und gegen populäre missionarische Initiativen, in ihrer Abgeschlossenheit, ihren autoritären Leitungsstrukturen sowie ihrer Betonung rigider Moral und Ordnung haben viele dieser Gemeinden sektiererische Tendenzen.
Der Großteil dieser Neugründungen ist aber pfingstlerisch-charismatisch geprägt, teilweise klein und unbemerkt Daneben entstanden aber auch große Zentren mit lockeren, netzwerkartigen Verbindungen wie Christliche Zentren z.B. im Ruhrgebiet oder in Bielefeld oder die Freie Christliche Jugendgemeinschaft in Lüdenscheid. Deutschlandweit im Vordergrund stehen dabei die Hillsong-Gemeinden und die International Christian Fellowship (ICF).
Pfingstlich-charismatische Frömmigkeit stellt den – berechtigten – Protest gegen ein erfahrungsarmes und geheimnisleeres Christentum dar. Sie ist hat aber ihre Schattenseiten, wenn Erfahrungen mit dem Geist Gottes auf außerordentliche Phänomene beschränkt werden und Erlebnisse inszeniert und demonstriert werden sollen, wenn ein unrealistischer Heilungsoptimismus verbreitet wird, wenn das Sendungsbewusstsein in elitätes Selbstbewusstsein umschlägt oder geistliche Autoritäten unter Berufung auf Gottes Geist Macht- und Dominanzstreben zeigen.
Ein wichtiges Kriterium für die Einschätzungen im Umgang mit diesen Gruppierungen ist ihre Offenheit für ökumenische Beziehungen.