F Religiöser Pluralismus
3 Sondergemeinschaften aus christlicher Tradition
Bei den hier aufgeführten Sondergemeinschaften handelt es sich um Gruppierungen, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts von den protestantischen Großkirchen abgespalten und ihr Selbstverständnis in deutlicher Abgrenzung gegen die übrigen Kirchen entwickelt haben. Sie entstanden aus tiefen Glaubenszweifeln und religiöser Suche nach der wahren Gemeinde. Dies verband sich mit erneuerten kultischen Handlungen, (Sabbatfeier bei den Adventisten), mit terminierten Endzeitspekulationen (Zeugen Jehovas) oder individuellen Ereignissen wie Visionen oder inneren Stimmen (Fiat Lux, Mun, Jakob Lorber), Heilungswundern (Christliche Wissenschaft) oder Berufungserfahrungen (Mormonen). Sie verstehen sich als die einzige christliche Gemeinschaft, die das biblische Zeugnis ernst genommen hätten, so dass nur bei ihnen Heils zu finden sei. Auf sie trifft der klassische Sektenbegriff zu (siehe oben). Die Grenzen zwischen ihnen und den Freikirchen sind oftmals fließend, entsprechend den oben beschriebenen Prozessen von Versektung und Entsektung.
In ihrem Selbstverständnis beziehen sie sich zwar auf die Bibel als Wort Gottes. In deren Auslegung allerdings gehen sie darüber hinaus, insofern neben die Bibel eine zweite Offenbarungsquelle tritt, sei es ein vollmächtiges Amt (Neuapostolische Kirche, Zeugen Jehovas), seien es Neuoffenbarungen oder besondere Offenbarungsträger (Adventisten, Christliche Wissenschaft, Christengemeinschaft, Lorber-Gesellschaft) oder zusätzliche heilige Schriften (Mormonen).
Während heute noch Gemeinschaften an einer exklusiven, antiökumenischen und abgrenzenden Haltung festhalten (zum Beispiel Zeugen Jehovas) und sich manche im Lauf der Zeit noch stärker radikalisieren, gibt es auch Gemeinschaften, die ihre ablehnende Haltung gegenüber den ökumenisch orientierten christlichen Kirchen revidiert und einen Öffnungsprozess begonnen haben, um die gewählte „Selbstisolation“ zu überwinden.
Die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten und die Neuapostolische Kirche sind zwei Beispiele für solche „Entsektungsprozesse“. Beide Gemeinschaften sind mittlerweile Gastmitglieder in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen. Durch Begegnungen und offizielle Gespräche mit Vertretern kommt es bei den ehemaligen Sondergemeinschaften zur Formulierung eines neuen Selbstverständnisses, das nicht in Abgrenzung, sondern in einer neuen Verhältnisbestimmung zu den christlichen Kirchen und der Suche nach einer Übereinstimmung in Fragen der Lehre und Praxis formuliert wird.
So haben sich die Siebenten-Tags-Adventisten (STA) von einer radikal antikatholischen Gruppe dahingehend gewandelt, dass sie 1993 als Gastmitglied in der Arbeitsgemeinschaft Christlichen Kirchen aufgenommen werden konnten. Die Neuapostolische Kirche hat seit der Jahrtausendwende einen beispiellosem Öffnungsprozess in die Ökumene begonnen. In ihrem 2012 veröffentlichten Katechismus formuliert sie ihr Selbstverständnis neu und bekräftigt darin ihren Willen zur ökumenischen Zusammenarbeit. Seit 2019 ist sie Gastmitglied in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) auf Bundesebene wie auch in der ACK-NRW.
Zwischen diesen Gemeinschaften und der Evangelischen Kirche gibt es regelmäßige bilaterale Kontakte und Begegnungen, um Gemeinsamkeiten zu suchen, aber auch theologische Unterschiede zu diskutieren.
Die Zeugen Jehovas bezeichnen sich zwar auch weiterhin als Christen, schließen sich aber wegen großer Differenzen und vor allem wegen ihres Exklusivitätsanspruchs von allen christlichen Kirchen aus. Konflikte bestehen vor allem darin, dass sie sich von allen gesellschaftlichen Aktionen ausschließen, keine Feste oder Geburtstage feiern und Aussteigern auch innerfamiliär die Gemeinschaft entziehen.
Die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage“, wie sich Mormonen selbst bezeichnen, verstehen sich unter Berufung auf das 1830 veröffentlichte Buch Mormon als Neugründung der christlichen Urgemeinde und damit als wahre Kirche Jesu Christi. Aufgrund ihrer Lehren und vor allem der Tempelrituale erscheinen sie aber als eine eigenständige synkretistische Neureligion, die von der christlichen Ökumene nicht als christliche Kirche angesehen werden kann. Konflikte wie bei den Zeugen Jehovas sind mit ihnen nicht bekannt.
Gespräche und Begegnungen haben immer mehrere Ebenen zu berücksichtigen: Ein subjektives religiöses Erleben kann man diesen Menschen nicht von vornherein absprechen, aber ihre Deutungen und der daraus abgeleitete Anspruch sind kritisch zu hinterfragen. Die Sehnsucht nach Glaubensvergewisserung ist ein Thema für alle Christen und wird mit zunehmender Unübersichtlichkeit drängender. Die Antworten der Sondergemeinschaften sind gleichwohl unzureichend und deshalb auch erfolglos, denn Glaubensgewissheit ist immer unverdientes Geschenk und menschlicher Verfügung entzogen. Der Mensch bekommt nicht auf alles eine Antwort, wird sein Leben nicht perfekt führen und auch keine perfekte Gemeinschaft bilden können. Vielmehr ist der Glaubende immer angefochten, weiß um seine Entfremdung von der Wahrheit, sieht sich aber von ihr auf den Weg gestellt. Diese christliche Grundüberzeugung in das Gespräch mit diesen Sondergemeinschaften einzubringen kann helfen, eine Kultur der Selbstreflexion und damit auch Prozesse der Entsektung zu fördern.