F Religiöser Pluralismus
1 Zum Sektenbegriff im weltanschaulichen Pluralismus
Weltanschauliche Vielfalt ist heute zum Normalfall geworden: Neben den großen Kirchen finden sich zahlreiche unterschiedliche Freikirchen mit einer Vielzahl unabhängiger Neugründungen sowie größere und kleinere Gemeinschaften im dezidierten Gegenüber zur ökumenischen Christenheit. Neben klar erkennbaren Gruppen und Gemeinschaften finden sich neue religiöse Strömungen und Bewegungen mit unverbindlichem Charakter. Nicht wenige Menschen haben nur geringes Interesse an religiösen Themen oder verstehen sich ausdrücklich als religionskritisch. Zunehmend verschwimmen die Grenzen zwischen säkularen und religiösen Angeboten und Weltdeutungen.
Dieser Pluralismus hat auch Schattenseiten: Menschen erleben, wie sie manipuliert oder unter Druck gesetzt werden. Es gibt Abhängigkeiten von Gruppen oder Anbietern, die absolute Hingabe fordern oder ihre Interessen ohne Rücksicht durchsetzen.
Früher wurde dafür der Begriff „Sekte“ verwendet. Wer sich aufgrund von Sonderlehren trennte, zunächst von der Kirche, später dann auch vom gesellschaftlichen Mainstream, war Sektierer und wurde bekämpft.
In der heutigen religiösen Vielfalt erscheint dieser klassische Sektenbegriff untauglich. Die bloße historische Priorität ist kein geeignetes Kriterium. Außerdem gibt es religiöse oder religionsähnliche Neugründungen wie zum Beispiel Scientology, die nicht aus einer Abspaltung hervorgegangen sind. Schon aus diesen Gründen ist Vorsicht bei der Bezeichnung „Sekte“ geboten.
Beim Gebrauch des Wortes „Sekte“ schwingt heute noch etwas anderes mit: „Sekten“ – das sind diejenigen, die ihre Mitglieder schlecht behandeln. Damit richtet sich der Blick darauf, ob Gemeinschaften oder Anbieter für ihre Mitglieder nach innen oder nach außen Konflikte bringen. Dies kann geschehen, indem Menschen geistig, körperlich und/oder materiell so stark unter Druck gesetzt und von sich abhängig gemacht werden, dass ein normales Leben nicht mehr möglich ist. Sie bieten zwar klare Antworten und Orientierungen im Blick auf zentrale existenzielle Fragen, dazu eine überschaubare Gemeinschaft mit gegenseitiger Solidarität und der Möglichkeit, Aufgaben zu übernehmen und in der Hierarchie aufzusteigen. Im Gegenzug verlangen sie aber völlige Hingabe und Unterwerfung.
Diese Merkmale können unterschiedlich stark ausgeprägt sein, eine trennscharfe Abgrenzung zwischen „Sekte“ und „Nichtsekte“ ist immer nur graduell möglich. Auch verändern sich diese Merkmale: Man kann von „Versektung“ sprechen – wenn eine Gruppe immer mehr oder stärkere konfliktträchtige Merkmale zeigt – wie umgekehrt von „Entsektung“.
Entsektung geschieht, wenn Wahrheit und Erlösung nicht nur in der eigenen Gruppe, sondern auch außerhalb gesucht werden dürfen, wenn einem elitären Heilsverständnis gewehrt, unterschiedliche Grade von Nähe und Distanz ermöglicht und unklare Grenzen bewusst in Kauf genommen werden. Hierin unterscheiden sich Kirchen von „Sekten“. Diese im christlichen Glauben begründete Freiheit gilt es zu bewahren.